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Die neue Normalität

 

Seit neuestem bin ich voller Fragezeichen, was die Urlaubspläne meiner Freunde betrifft, obwohl ich mich ehrlich mit jedem freue, der sich wieder für etwas begeistert. Ich bin irritiert über die vollen Geschäfte, obwohl wir so lange auf so vieles verzichten mussten. Ich fahre gerne ins nahe München, benehme mich aber, als ginge es ins Ausland.

 

Ich bin also ambivalent - und eigentlich sollte ich mich darüber sogar freuen, denn offenbar kann ich Widersprüche wieder in der Schwebe halten. Das war im Lockdown nicht immer so: Obwohl ich normalerweise viele Meinungen gleichzeitig habe, ertrug ich anders Denkende nicht mehr. Es tat mir nicht einmal weh, wenn ich mit lieben Menschen nicht reden konnte. Ich hatte Mühe mit der Toleranz.

 

Wie ich da rausgekommen bin? Nun, irgendwann dämmerte mir, dass mir der Kontakt mit anderen wichtiger ist als ihre Meinung, vor allem während der Kontaktbeschränkungen. Ich wollte mein Gegenüber weiter mögen können. Also machte ich mich daran, Toleranz zu "üben": Ich verzichtete probehalber darauf, meine Meinung durchzusetzen, allerdings ohne sie aufzugeben. Ich entschied mich also für Ambivalenz – und echter Kontakt braucht Ambivalenz, weil Freiheit nur in der Schwebe möglich ist.

 

Rückblickend sehe ich, wie fest mich mein Nervensystem im Griff hatte – meine Engstirnigkeit war die Folge der Erstarrungsreaktion, die bei Bedrohungen ausgelöst wird. Von Zeit zu Zeit rappelte ich mich auf und landete prompt im Kampf-oder-Flucht-Modus: Ich ärgerte mich über alles Mögliche oder flüchtete in Fantasy-Welten. Das änderte sich erst, als ich mich bewusst für den Kontakt entschied.

 

Die Aktivierung des Kontaktsystems erleben wir eher selten, normalerweise fühlen wir uns entweder entspannt und müde (da ist die Erstarrungsreaktion mit drin) oder wir sind wach und angespannt (das ist der Kampf-und-Flucht-Modus). Ein aktives Kontaktsystem zeigt sich dagegen durch eine ganz wunderbare Mischung: Wir sind wach und entspannt - das ist dieser besondere Flow, den man oft nach dem Yoga, der Meditation und eben auch nach der Atempraxis erlebt. Er ist so wichtig, weil der Körper dann endlich verdaut und regeneriert, physisch wie emotional.

 

Dazu ein Beispiel: Gegen Ende einer Atembehandlung sah eine Klientin auf einmal eine Äthermaske vor sich, mit der sie vor über 70 Jahren anästhesiert worden war. Das Bild war klar, aber nicht bedrohlich, auch wenn sich das kleine Mädchen damals sicher sehr gefürchtet hat. In dieser Behandlung hatte ich den Kontakt sehr sanft und lauschend gestaltet - noch viel mehr als sonst. Offenbar hatte das meiner Klientin ausreichend Sicherheit vermittelt. Sie blieb also entspannt und die ursprüngliche emotionale Ladung funkte nicht dazwischen. So konnte sie ihr Kindheitserlebnis interessiert und wohlwollend betrachten.

 

Auch die Erinnerungen an die Pandemie und den Lockdown werden wir vermutlich noch lange mit uns herumtragen. Wir mögen uns schon bald nicht mehr bewusst damit beschäftigen. Dennoch wird die Verarbeitung vielleicht erst in Jahrzehnten abgeschlossen sein.

 

Die neue Normalität ist also zutiefst ambivalent: Wir wollen zurück zum Davor, sind aber durch eine Pandemie gegangen, die womöglich noch gar nicht vorbei ist. Wir waren gestresst und vielleicht sogar krank. Wir schleppen Wut und Trauer mit uns herum und viele werden die Folgen noch lange spüren. Die Normalität ist nicht normal, wir machen uns was vor und hoffen drauflos.

 

Ich finde es immer noch schwer, diese Ambivalenz auszuhalten. Ich möchte wissen, wo’s lang geht und endlich wieder planen können. Aber so ist es eben nicht, zumindest nicht im Moment. Also entscheide ich mich jetzt erst einmal dafür, die Situation in ihrer ganzen Mehrdeutigkeit bewusst offen zu halten. Mir gefällt nicht alles, was ich sehe, aber Toleranz, Freundlichkeit und Offenheit sind Werte, für die ich meine Meinung auch mal hintan stellen kann. Ich lasse mir Zeit, vielleicht mehr, als ich jetzt ahne. Mehr Zeit – vielleicht für immer: Das klingt doch eigentlich ganz entspannend.

 

 

Zum Weiterfragen

 

Wo bin ich ambivalent? Was bleibt noch in der Schwebe? Wie kann ich mir das leichter machen?

 

Wen will ich weiter mögen können, auch wenn ich eine andere Meinung habe?

 

Wie bin ich mit dem Lockdown umgegangen? Konnte ich etwas aus der Situation machen? Wie? Hat mir die Reduktion der Möglichkeiten geholfen, mich zu fokussieren? Was will ich beibehalten?

 

Was habe ich im Lockdown viel weniger vermisst als ich dachte? Wie begrenze ich diese Aktivitäten, vor allem auch dann, wenn sie eigentlich schön sind?

 

Was ist mir für die nächste Zeit wichtig? Kann ich mich fokussieren und gleichzeitig Ambivalenz zulassen? Wenigstens auf Probe?

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