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Sanfte Berührung

 

Michelangelo malte den Finger Gottes so, dass er Adam fast erreicht. Diese Kluft finden wir heute nicht nur in überweltlichen Dingen, sondern auch im Alltag: Berührung ist oft kaum noch möglich oder zumindest unangemessen. Und Corona hat uns ja auch nicht sozial isoliert, sondern eher körperlich. Dabei sind Händeschütteln, Schulterklopfen oder Umarmen so viel wichtiger als man denkt.

 

Denn diese alltäglichen Berühungen schaffen Beziehung und stärken Bindung: Zum Beispiel ist der Tastsinn interessanterweise vor allem in Fingern, Lippen und Zunge lokalisiert. Am Rücken haben wir dagegen besonders viele Nerven, die sanfte Berührung zum Gehirn melden – für die „Fellpflege“ braucht man eben einen guten Freund. Und unser Körper spürt, dass wir nicht allein, sondern in Sicherheit sind.

 

Noch wichtiger ist die sanfte Berührung für einen guten Start ins Leben. Sie formt das Ich-Erleben, der Säugling spürt seine Grenze und lernt, Ich und Außenwelt zu unterscheiden. Noch Jahre später zeigen sich deutliche kognitive Unterschiede, wenn Säuglinge zu wenig berührt werden.

 

So fundamental wie die Berührung ist auch der Berührungssinn: Er ist nicht einmal ansatzweise zu ersetzen, wenn er ausfällt. Auch im hohen Alter funktioniert er stets zuverlässig, anders als die übrigen Sinne. Und nicht zuletzt: Berührungen bemerken wir immer, während wir andere Signale durchaus überhören oder übersehen. Denn jede Berührung könnte gefährlich sein. Daher unterscheidet der Körper immer sehr schnell und fein differenziert, ob er eine Berührung mag oder eher nicht.

 

Berührung ist also nie neutral, sondern übermittelt immer Botschaften, die der Körper versteht. Das ist für die Atembehandlung so wesentlich, dass wir sogar von einem „Atemgespräch“ reden: Hier berühren wir mit „lauschenden“ Händen, die am Kontakt zutiefst interessiert sind. Die Hände beruhigen, bergen, fragen nach Potenzialen und nach Entwicklungen oder zeigen einen möglichen nächsten Schritt. Sie erspüren den Atem und antworten darauf. 

 

Diese besondere Qualität der Berührung vermittelt Halt und Willkommen, Sicherheit und Geborgenheit. Vielleicht zum ersten Mal spürt der Körper, wie sich eine gelingende Regulation anfühlt – und die lernt er dann auch! Manchmal blüht er auf, als hätte er nur darauf gewartet, endlich willkommen zu sein. Kompensationen werden überflüssig, die uns bisher haben durchhalten lassen, Kraft wird frei. Das kann auf seelischer Ebene geschehen, aber auch körperliche Spannungszustände betreffen. Wir berühren immer Körper, Seele und Geist, denn eines geht nicht ohne das andere - da gibt es keine noch so kleine Kluft.

 

Zum Weiterlesen*

Martin Grunwald: Homo hapticus – Warum wir ohne unseren Tastsinn nicht leben können, Droemer 2017

 

Aline LaPierre: Neuroaffective Touch

 

Arte: Die Macht sanfter Berührung

 

* unbezahlte Empfehlung, weil selbstentdeckt, selbstgekauft, selbstgelesen, selbstbegeistert

 

 

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