· 

Der Körper weiß, dass er dazugehört

 

Wir leben nicht isoliert, sondern sind auf vielfältige Weise mit unserer Umgebung verbunden. Das beginnt schon auf der stofflichen Ebene: Unser Körper braucht Luft und Nahrung, er verleibt sie sich ein, wandelt sie um und gibt sie wieder ab. Auch mit den Sinnen sind wir permanent in Kontakt mit der Umwelt: Wir erleben, wie uns der Wind durch die Haare streicht, riechen die frische Luft nach dem Regen und spüren den unebenen Weg unter den Füßen. Und natürlich sind wir auch im Austausch mit anderen Menschen: Wir sehen, wer auf uns zukommt und spüren, ob wir uns damit wohlfühlen oder nicht. Wir antworten auf Fragen, manchmal sogar bevor sie gestellt werden, merken aber auch, wenn wir angelogen werden.

 

Für den Körper sind das alles Informationen. Er ist sozusagen ein großes Wahrnehmungsorgan, das dauernd Hinweise sammelt. So schätzt er permanent ein, was gut für ihn ist und was nicht. Und ohne dass wir es merken, trifft er seine Vorkehrungen. Denn der Körper ist ein Überlebenskünstler.

 

Ein Beispiel: Vor vielen Jahren bemerkte ich stets ein Sirren im Ohr, wenn ich mit einem entfernten Bekannten zu tun hatte. Selbst nach kurzen, völlig harmlosen Gesprächen war ich verspannt und erschöpft. Da ich häufig mit ihm zu tun hatte, war das natürlich sehr unangenehm. Ich probierte alles: Massagen, Entspannung – das volle Programm. Nichts half. Eines Tages, während eines besonders unangenehmen Gesprächs, schoss mir ein absurder Gedanke durch den Kopf: „Ja, gut so. Zeig’s ihm!“ feuerte ich innerlich meinen Tinnitus an, den ich plötzlich als Fechter „sah“, der mit sirrender Klinge einen Ausfallschritt macht. Daraufhin passierte zweierlei: Ich konnte mir kaum noch das Lachen verkneifen – und habe mich danach jahrelang gefreut, diesem Menschen zu begegnen, obwohl er mir eigentlich nach wie vor unangenehm war. Allerdings habe ich mich auch nie mehr auf ein längeres Gespräch eingelassen…

 

Das Beispiel zeigt, dass sich der Körper auf die Situation einstellt, lange bevor tatsächlich irgendetwas passiert. Oft bemerken wir das nicht und verharren sogar in Situationen. Wenn wir die Köpersignale jedoch spüren lernen, können wir eingreifen und der Körper entspannt sich wieder. Dieser Dreiklang Erkenntnis – Eingreifen – Entspannung ist essentiell für unsere Gesundheit, weil die Stressreaktion und ihre Folgen vermieden werden. Es gibt viele sehr gute Methoden und Therapeuten, die dabei helfen können, auch die Atempraxis kann das.

 

Aber die Atempraxis kann noch mehr: Manchmal entspannen wir nach der Lösung noch tiefer und erreichen dann eine Ebene, die viele als spirituell erleben und beschreiben. Dort fühlen wir uns zutiefst verbunden – mit uns selbst, den eigenen Themen, dem Gegenüber und letztlich mit dem Leben. Alles ist genau wie vorher, auch die unangenehmen Situationen bleiben dieselben – und doch ist alles ganz anders: tragend und nährend, ja saftig. Es ist, als hätte sich der Duft der Welt verändert. Und vor allem: Das alles ist völlig selbstverständlich, überhaupt nichts Besonderes, als wäre es immer schon so gewesen. Wir gehören einfach dazu.

 

Ich habe mich schon oft über dieses Dazugehören gewundert. Heute denke ich: Durch die Atempraxis spüren wir offenbar unseren Körper ohne all das, was das Leben Schicht um Schicht darüber legt. Wir finden zurück zu einer unverstellten Wahrnehmung. Und der Körper weiß, dass er dazugehört.

 

 

Zum Weiterlesen*

 

Toko-pa Turner: Belonging. Remembering Ourselves Home. Her Own Room Press, 2017

 

* unbezahlte Empfehlung, weil selbstentdeckt, selbstgekauft, selbstgelesen, selbstbegeistert

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0