Vielleicht kennst Du diese Situation: Im Team, in der Gruppe soll etwas verändert werden. Und hast Du’s nicht gesehen, sind alle Schäfchen im Trockenen und die Claims neu abgesteckt. Bei der eigentlich angekündigten Absprache ist schon nichts mehr offen.
Mir kommt das oft vor wie ein Teller mit Schnitzeln, der auf den Tisch gestellt wird. Die einen langen zu, während den anderen allmählich dämmert, dass – jetzt – vielleicht – eine Gabel – nicht völlig – unpraktisch – wäre. Am Ende fühlen sich die einen erfolgreich, die anderen übervorteilt. Es ist nicht genug für alle da.
Was dabei abläuft, kann man sich anhand des Nervensystems klar machen: Solche Situationen sind von Rivalität und Konkurrenz geprägt (wenn es nicht nur sportlich-spielerisch zugeht). Dem liegt der Kampf-und-Flucht-Modus zugrunde: Die einen kämpfen, die anderen ziehen sich zurück. Beides sind Stressreaktionen mit einer hohen Aktivierung. Keiner sieht das Ganze, alle haben einen Tunnelblick.
Es ist sehr schwer, sich von diesem Kampf ums größte Schnitzel nicht anstecken zu lassen. Kaum jemandem gelingt es, den Blick weit zu halten. Man muss schon sehr in sich selbst ruhen, um Freiräume als Ort der Begegnung zu sehen, statt als Bühne für sich selbst. Und was für ein Glücksfall ist es, jemanden zu treffen, der sogar in unübersichtlichen Situationen auf ein gutes und kommunikatives Miteinander baut, statt reflexhaft zum eigenen Vorteil zu handeln.
Auch diese Kooperationsbereitschaft hat eine Grundlage im Nervensystem: Sie beruht auf einem aktiven Kontaktsystem, das durch einen entspannten Zustand gekennzeichnet ist. In der Körperwahrnehmung geht Offenheit sehr oft mit einem ausgesprochenen Raumgefühl einher.
Meiner Erfahrung nach haben viele Hochsensible eine Begabung für diesen offenen Raum. Ihr Gespür dafür ist immens – wie ein Seismograph reagieren sie auf alle Nuancen und Qualitäten, die sich in diesem Raum zeigen. Daher können sie ihn auch so gut offen halten.
Was aber auch klar ist: Sie sind sich dessen nur selten bewusst. Vielmehr missachten sie ihren Instinkt, weil er in unserer Welt nichts gilt. Damit fehlt ihnen aber ein wichtiger Baustein, um das eigene Verhalten zu verstehen.
Sie finden dann keinen Zugang zu ihrer ureigenen Kraft und geraten in ihr persönliches Drama aus Überforderung, körperlichen Symptomen und psychischen Reaktionen: Viele fühlen sich nach unübersichtlichen Situationen wie erschlagen – dann übernimmt der dritte Teil des autonomen Nervensystems die Regie: Wir erstarren. Oder körperliche Symptome erzwingen den Rückzug, die emotionalen Reaktionen können von weinerlich bis aggressiv reichen. Sogar die reflexhafte Besänftigung der Kontrahenten wurde mittlerweile als Traumareaktion erkannt.
Diese Erkenntnis weist zugleich den Weg: Es geht darum, die eigene Begabung für den offenen Raum zu entdecken, zu erforschen, zu kultivieren, zu feiern und immer tiefer in’s Leben zu integrieren. Man kann es nicht oft genug sagen: Diese Ressource fehlt in unserer überfüllten und leistungsorientierten Welt.
Das klappt natürlich nicht über Nacht. Und es geht vor allem nicht alleine, denn für Feinfühligkeit gibt es einfach nicht genug Vorbilder und auch nur selten Anerkennung. Außerdem ist der offene Raum ja per se ein Ort der Begegnung und des Miteinanders – und man kann nun einmal nicht alleine kooperieren.
Das ist aber kein Nachteil, denn kaum etwas ist so erfüllend wie die Aufmerksamkeit eines Menschen, der aus der Anbindung an den offenen Raum heraus handelt. Ich genieße es sehr, wenn jemand den Raum für mich hält – und genauso gerne halte ich den Raum für andere, denn das nährt mich genauso sehr wie mein Gegenüber. Mit dem offenen Raum ist es ein bisschen wie mit der wundersamen Brotvermehrung: Auch wenn es anfangs wenig hermacht, werden am Ende alle satt.
Die Atemarbeit ist besonders gut geeignet, um uns in die Qualität des offenen Raums führen, denn der Atem lebt auf, wenn sich zwischen zwei Menschen ein Freiraum öffnet. In der Arbeit mit dem Atem erleben wir die reichen und vielfältigen Wahrnehmungen der Feinfühligkeit als das Geschenk, das sie sind. Nach und nach findet sich die eigentümliche Kraft der Hochsensiblen – fast wie von allein. Man könnte sogar sagen: Sie will gefunden werden.
Und jetzt willst Du wissen, wie Du Dich in den offenen Raum hineintasten kannst? Hier ein paar Beispiele:
- Nimm die Pausen wahr: zwischen Worten, zwischen Sätzen, im Gespräch, in der Musik.
- Höre in die Stille hinein: nach dem Glockenläuten, nach einem Musikstück (besonders leicht geht das bei Mozart).
- Achte auf den Abstand: zwischen Möbelstücken, zwischen Bäumen, zwischen Menschen
- Sieh das Volumen, nicht die äußere Begrenzung: in einem Zimmer, in einer Kiste oder in einer Tasse.
- Koste den reglosen Moment der Stille zwischen zwei Atemzügen aus.
- Nimm die Wegstrecke wahr, die die Vögel fliegen. Der Luftraum ist für sie Lebensraum
- Achte darauf, wie der Wind die Bäume zaust – oder die Balkonblumen, je nach Perspektive. Spüre der Verbindung zwischen diesen Bewegungen nach.
- Schau in den Himmel und stell Dir vor, dass dieser Ausschnitt des Universums vor ein paar Stunden über Tibet zu sehen war – und in ein paar Stunden wieder dort stehen wird.
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