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Lebendige Atempraxis: Mach Deinem Atem den Hof

 

Wenn es um den Atem geht, ist Feinfühligkeit gefragt. Der Atem reagiert auf alles, auf jede Berührung und jeden Windhauch, sogar auf Worte – er reagiert viel feiner, als wir das für möglich halten würden. Ein Beispiel: Heute sind wir so an die Selbstoptimierung gewöhnt, dass wir überall Forderungen hineinhören, selbst in neutrale Aussagen. Sogar Anleitungen zur Entspannung können unbemerkt zu einer neuen Pflicht werden. Wir sollten uns also Gedanken machen, wie wir vom Atem sprechen. Denn Worte sind wie Zaubersprüche: Sie verändern unsere Sicht der Dinge.

 

Zum Beispiel verwende ich zwar den Begriff der „Atemtherapie“, weil er nun einmal eingeführt ist. Ich mag ihn aber eigentlich nicht, denn er klingt nach medizinischer Behandlung, wie sie Physiotherapeuten in der reflektorischen Atemtherapie anbieten. Die „Atemtherapie“, die ich gelernt habe, geht jedoch bewusst nicht von einer Diagnose aus und behandelt auch keine Symptome. Ihr Fokus ist das Spüren, das nach uns und unserem Wesen fragt und uns ins Leben ruft. Auch von „Atemarbeit“ spreche ich ungern, denn die meisten von uns arbeiten eh schon genug. Mit diesem Wort kann sich diese Tendenz unbewusst verstärken.

 

Früher war der verwendete man oft den Begriff "Atempflege", wie man heute noch von „Körperpflege“ spricht. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber das erinnert mich immer an die Lebensreformbewegung, in deren Umfeld die Atemarbeit ja entwickelt wurde. Auch die Sprache von damals passt irgendwie dazu, denn sie kann die Zeitlosigkeit gut beschreiben, die uns der Atem erleben lässt. Dennoch wirkt sie heute wie aus der Zeit gefallen – zu viel hat sich seither verändert: Zunächst einmal hat das dritte Reich die Lebensreformbewegung ja teilweise vereinnahmt und pervertiert, so dass ihre Sprache bei uns oft auch Abwehr oder Scham weckt. Nach dem Krieg kamen weitere Umwälzungen wie die sexuelle Revolution der 68er, die Frauen- und die Umweltbewegung. Und, um noch ein paar Beispiele jüngeren Datums zu nennen: die Globalisierung, das Internet und die elektronischen Medien. Und jetzt noch die Pandemie.

 

Aus meiner Sicht ist aber auch die Bezeichnung „breathwork“ nicht völlig unproblematisch. Für viele moderne Schulen mag das passen, weil sie ihre Methoden überwiegend aus dem englischsprachigen Raum übernehmen. Der Begriff wirkt ja auch frisch und ist frei von historischen Belastungen. Aber es ist nun einmal so, dass viele Schulen der Atem- und Körperarbeit über den Umweg der Emigration (auch) von den Atemfrauen aus dem Berlin der 1920er-Jahre beeinflusst wurden. Außerdem haben sich viele Schulen alte indigene Praktiken angeeignet, ohne dass dieser Beitrag explizit anerkannt wird. So modern der englische Begriff also klingen mag: Er erleichtert es schon sehr, sich um historische Zusammenhänge herum zu mogeln, die die angenehmen Gefühle nur stören würden.

 

Wie also spreche ich vom Atem? Die ehrliche Antwort lautet: Keine Ahnung – ich suche und taste, ich umkreise und nähere mich an. Im Moment spreche ich am liebsten von „Atempraxis“, weil sich dabei etwas in mir öffnet. Das gute alte Wort „Praxis“ erinnert mich daran, die Theorie erstmal sein zu lassen und nicht zu lange zu reden. Stattdessen „praktiziere“ ich, wende mich also der konkreten Erfahrung zu und wiederhole dies geduldig immer und immer wieder. Ich taste und forsche, finde und verlerne. Ich suche nach Wegen, neuen und alten. Manche Wegstrecke gehe ich mehrfach, in verschiedenen Richtungen. Ich probiere aus und "übe", weil ich es noch nicht kann, mich aber gerne nähern möchte.

 

Was ich damit sagen möchte: Ich mache meinem Atem den Hof, ich nähere mich also liebevoll und mit Respekt, wie eine Liebhaberin. Die Sprache, die ich dafür finde, ist natürlich auch nicht neu. Aber ich suche sie immer wieder neu und schöpfe aus meinem Erleben. Nur so werde ich lebendig, ebenso wie meine Sprache.

 

Und im Austausch wird sie noch reicher: Was also denkst Du dazu?

 

Mehr lesen: Frauen, die nach innen schauen

 

 

Zum Weiterlesen*

 

Karoline von Steinaecker: Luftsprünge – Anfänge moderner Körpertherapien, Urban & Fischer, München 2000. Hier finden sich einige sehr unterhaltsame Beispiele für den Sprachgebrauch, der sich in der Atemszene seit den 1920er-Jahren erhalten hat.

 

* unbezahlte Empfehlung, weil selbstentdeckt, selbstgekauft, selbstgelesen, selbstbegeistert

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